Ein bisschen unerzogen, ganz viel bedürfnisorientierte Beziehung und noch viel mehr Herzgefühl

Nun sitze ich hier auf der Dachterrasse und die letzten Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht. Ich hoffe auf eine Erleuchtung, weil mich so viele gefragt haben, wie wir das hier so machen. Mit den Kindern. Den drei Kindern. Und zugegebenermaßen ist das gar nicht so leicht in Worte zu fassen. Aber ich möchte versuchen, die Eckpfleiler unseres Miteinanders zu beschreiben.

Dafür muss ich tatsächlich etwas ausholen, denn es hat sich verändert, seit Henri da ist. Denn als er zu uns kam, fing ich an, mich mit dem Thema „unerzogen“ zu beschäftigen und merkte auch gleicht, dass mich daran etwas reizt. Gleich hier zu Beginn möchte ich erwähnen, dass „unerzogen“ nicht unsere einzige Richtung ist, denn niemals lasse ich mich von Wegen anderer vereinnahmen. Niemals gehe ich Wege anderer. Ich kann immer nur meinen Weg mit meinem Ich gehen. Verschiedene Richtungen formen mich und unseren Weg und ich nehme von ganz vielen Inspirationsquellen immer nur die Blumen mit, die ich an meinem Wegesrand schön finde. Ich möchte Blumen sähen und sehen, die mir gefallen und die sich stimmig anfühlen. Dabei bin ich immer selbstreflektiert und schaue natürlich auch darauf, welche uralten Muster sich eingeschlichen haben und ich gern verabschieden möchte. So habe ich einiges auf meinem Weg zurück gelassen, nehme und trage aber so vieles weiter mit mir.

Der Umgang mit den Kindern

Jeden Tag versuche ich eine faire Mama zu sein. Das ist tatsächlich mein Tagesziel, denn den Gerechtigkeitssinn trage ich schon ganz ganz lange mit mir spazieren und es tut mir gut, wenn ich am Ende des Tages sicher weiß, dass ich heute zu jedem der drei einfach fair war. Dabei übertreibe ich es nicht mehr, denn perfekt kann ich es auch hier nicht machen. Perfekt ist eh nicht mehr mein Ziel. Diesen Stein habe ich ganz schnell liegen lassen. Er war mir zu schwer. Dafür habe ich die Feder der Leichtigkeit zu mir genommen und versuche, nicht mehr alles so ernst zu sehen. Was aber nicht bedeuten soll, dass mir alles wurscht ist und ich mit Kopfhörern und lauter Musik hier durch den Tag wandle. Nein. Ich versuche einfach nur, nicht mehr aus allem ein Drama zu machen und wenn mal einer der drei hier ein Drama macht, dann bin ich da und es ist auch schnell wieder vergessen, sobald es fürs Kind okay ist.

Weiterhin habe ich gespürt, dass wenn ich mit den Kindern kooperiere, dass sie dann auch mit mir kooperieren. Dafür braucht es zwar auch manchmal tausend Worte, aber wie sollen sie auch die Welt verstehen, wenn wir sie ihnen nicht erklären. Und trotzdem wird es oft Frust auf beiden Seiten geben. Dieser Frust ist wichtig und ich versuche diesen so gut es geht zu begleiten. Natürlich gelingt mir dies auch nicht immer gleich gut. Das hängt ganz an meiner Tagesform und wie arg mich vielleicht einanderes Thema beschäftigt oder gar ärgert.

Wichtig ist mir stets, dass ich auf Augenhöhe mit ihnen bin und nicht einfach nur „nein“ sage. Denn ein starres Nein ist wie eine riesig dicke Mauer. Jeder Wunsch wird hier gehört und gesehen und wir überlegen gemeinsam, wie wir es dann machen. Gern gebe ich Argumente vor und wenn einer ein gutes Gegenargument hat, ist es okay und dann ändere ich auch sehr gern meine Blickrichtung, denn mir ist viel daran gelegen, dass sie mich als Weggefärtin wahrnehmen und nicht als sarken Baum mit dickem Stamm. Ich habe mich dagegen entschieden, die Anführerin zu sein. Ich möchte nichts in sie hinein trichtern, was sie zu „meinen“ Kindern macht. Sie sind in diesem Sinne nicht meine Kinder. Sie sind Schmetterlinge, die neben mir her fliegen und kommen und gehen. Ich kann sie nicht einfangen und seit ich das so lebe, funktioniert hier einiges so viel besser.

Und klar gibt es Stolpersteine auf diesem Weg und ja, vielleicht fällt auch mal ein Baum um und versperrt uns unseren Weg. Aber das ist okay und das darf sein und unsere Bindung und Beziehung wird dadurch stärker, dass wir gemeinsam überlegen, ob wir über diesen Baum drüber hinweg klettern oder drumherum gehen und uns Wurzeln oder die Krone einmal genauer betrachten.

Ich weiß, das klingt alles sehr metaphorisch und weit her geholt. Wenn ihr aber ein bisschen Phantasie besitzt, wisst ihr, was ich meine. 

Wir wollen hier einfach nur miteinander leben. Nicht mehr und nicht weniger. Hand in Hand. So ruhig wie dieser Abend gerade ist und so wundervoll diese Natur da außerhalb dieser Dachterrasse, ist auch das Leben und die zwischenmenschliche Natur mit unseren Kindern. Nichts ist wichtiger als die Geborgenheit des Seins. Und wenn wir verstehen, dass diese kleinen Dinge, die uns ärgern und wütend machen, auf die meinetwegen 18 Jahre so minimal sind, dass werden wir auch verstehen, dass es sich nicht lohnt, da immer ein großes Ding draus zu machen. Ja, ich schweife ab, aber das war mir gerade wichtig, zu erwähnen. Ich visualisiere mir dieses Sinnbild oft. In welchem Verhältnis stehen nun diese 10 Minuten Ärger mit der Zeit, die wir mit unseren Kindern haben?

Der Umgang mit Medien

Auch dieses Thema hänge ich nicht so hoch auf, weil es völlig normal ist, dass Kinder auch mal in die Welt blicken wollen. Und sei es nur der Trickfilm der sprechenden Hunde und Flugzeuge. Na klar ist das Maß entscheidend, aber dies ist von Familie zu Familie unterschiedlich und jede Mama darf und soll es jeden Tag so machen, wie sie es für okay empfindet. Da gibt es kein richtig und falsch.

Hier bei uns ist es so, dass Hanna und Luis abends 30-60 Minuten fern schauen. Je nach Wetter und je nach Laune. Auch sie haben schwierige und leichte Tage und manchmal ist der Fernseher eben mein bester Freund, in dem er die Kinder etwas entspannen lässt, wenn sie sich in andere bunte Welten beamen und teilweise richtig mit dabei sind. Das ist okay für mich und wir sprechen oft und gern über das Gesehene. Niemals würde ich sie komplett alleine schauen lassen. Ich bin immer umher. Es sei denn sie schauen die Sendung zum hundersten Mal. Außerdem kann ich mich bei den bunten Hunden und Flugzeugen darauf verlassen, dass sie vor nichts Angst haben müssen. Also habe ich es zeitlangs so gehandhabt, dass ich sie nachmittags 30 Minuten habe schauen lassen, während ich Henri hingelegt habe. Das war wertvoll für mich, weil ich so die nötige Ruhe für den Kleinen hatte. Mittlerweile schläft Henri nur noch vormittags und schaut abends einfach so ein kleines bisschen mit. Er liebt Tiere und freut sich, wenn er sie im Fernseher sieht. Ja na klar und es entspannt hier auch manchmal die Situation. Wenn beide völlig durch sind vom Vormittag, weil im Kindergarten wieder viel passiert ist, dann dürfen sie auch mal etwas länger schauen.

Der Umgang mit dem Essen

Hier darf jeder so viel oder wenig essen, wie er möchte. Es wird ihnen nichts hineingestopft, gezwungen oder auch aufgequatscht. Wenn sie so gar nichts essen, schaue ich zwar manchmal schräg, aber dann sind meist die zwei Bananen am Nachmittag Schuld. Auch in Ordnung. 

Wie sollen Kinder anders Hunger kennen und einschätzen lernen, wenn ich sie dahingehend manipuliere?

Gutes Stichwort. Manipulation. Gibt es hier nur in geringem Maße und bevor jetzt alle aufschreien, erkläre ich euch, was ich damit meine. Wenn logische Konsequenzen folgen, dann ist es auch eine Art von Manipulation. Keine von mir auferlegte, aber dennoch wird sich das Verhalten des Kindes dann ändern. Es wird sich dadurch anpassen und dies finde ich so oft grenzwertig. Möchte Luis zum Beispiel noch gern draußen bleiben, ich aber hoch gehen, weil es schon spät ist und ich das Abendessen vorbereiten möchte, dann hat er die Wahl, alleine unten zu bleiben oder mit hoch zu kommen. Es beeinflusst ihn in seinem Wunsch, wenn ich hoch gehe. Jeder Tag endet nun mal und irgendwann wird es dunkel. Das ist somit eine logische Kosequenz mit der er leben muss und solche gibt es nun mal viele. 

Ich möchte ihnen das Leben und die Natur zeigen, achtsamen Umgang mit den Lebewesen und auch die Gezeiten der Meere. Was ich nicht möchte, ist sie formen wie ein Stück Ton. Dies macht meiner Meinung nach die Manipulation. Sie arbeitet nah am nicht vorhandenen Gewissen der Kinder, lockt den Gehorsam und versucht mit intriganten Spielchen, sich die Kinder zu ihrem zu machen. Da bekomme ich schon Beklemmungen, wenn ich es schreibe.

Der Umgang mit Unausweichlichem

Mir sind ein paar Dinge wichtig, die unausweichlich für sie sind. Meine persönlichen Grenzen sozusagen. Und die hat jeder und darf auch jeder haben. Auch meine drei sollen kennenlernen, dass jeder Mensch diese Grenzen besitzt und sollen sie für sich selber auch erkennen. Und sie sollen lernen für ihre Grenzen eingestehen. Meiner Meinung nach können sie das nur, wenn ich es ihnen vorlebe und dazu gehört eben auch eine gute Portion Konsequenz. Wenn dies jetzt auch nicht zu „unerzogen“ passt, passt es jedoch zu mir und meiner Philosophie vom gemeinsamen Leben mit Kindern.

So glaube und spüre ich, dass es für uns 5 in der Familie sehr wichtig ist, Routinen zu haben. Wir haben abends eine gewisse Bettroutine, an der es nur in aller größten Ausnahmefällen vorbei geht. Dazu gehören ganz simpel: waschen, Zähne putzen, Ohren und Nase säubern und in den Schlafanzug hüpfen. Bis vor einiger Zeit war es ein festes Ritual nach dem Abendessen und vor dem Sandmann. Mittlerweile lassen wir das Ritual sogar auch oft vor dem Fernseher stattfinden. Meistens dann, wenn sie auch vorm Fernseher gegessen haben. Ich weiß, dass sie am Tisch sitzen und essen können, also finde ich es nicht schlimm, wenn sie gemütlich auf dem Sofa sitzen. Ich habe keinerlei Ängste, dass sie es verlernen, gerade zu sitzen und aufrecht zu essen. Im Gegenteil, ich gestehe mir auch gern mal ein Mahlzeit fern vom Tisch zu, warum ihnen dann nicht auch?

Ansonsten haben wir kaum feste Routinen, die mir enorm wichtig sind und an denen ich festhalte. Vielleicht ist das auch der Grund, dass sie dieses von mir gegebene Abendritual so freiwillig mitmachen.

Bei anderen unausweichlichen Dingen erkläre ich kindlich und dann ist das einfach so. Je überzeugter ich bin, desto mehr „glauben“ es mir die Kinder und nehmen es in sich auf. Sie vertrauen meiner Aussage als Mama.

Der Umgang mit Aggression

Oft werde ich gefragt, wie ich mit Aggressionen untereinander umgehe. Da es nun ja doch drei Kinder sind, passiert es hin und wieder, dass sie sich streiten. Vor allem die großen zwei. Und oftmals dann, wenn es im Kindergarten am Vormittag sehr anstrengend für sie war. Was ich aber auch unter keinen Umständen dulde, ist Gewalt unter ihnen. Ein Streit ist nicht automatisch Gewalt und oft lasse ich sie ihre zwischenmenschlichen Kinderrivalitäten ausleben, frage oft nur „Braucht ihr mich?“ und versuche dann ganz neutral zu bleiben. Kommt es aber zu körperlichen Übergriffen gehe ich einfach nur mit meinem Körper dazwischen. Ich trenne sie dann meist wortlos. Tröste den, dem es weh tat und gut. Mehr nicht. Meistens besprechen wir es später nocheinmal, dass es ungut ist, dem anderen weh zu tun. Da Hanna und Luis im Oktober erst 4 werden, können sie in Stresssituationen noch gar nicht besonnen reagieren. Dieses Gehirnareal fängt gerade an, sich auszubilden.

Wird einer hier jedoch stark übergriffig und versucht seine Kräfte an Schwächeren auszuprobieren, weil er sich dies bei den großen Jungs im Kindergarten abgeschaut hat, werde ich sauer. Ich dulde niemals ein Malträtieren von Schwächeren nur zum Spaß. Da kann es auch schon mal passieren, dass ich sehr laut werde und den Ärgerer raus schicke. Und trotzdem werde ich später mit ihm (meist ist es tatsächlich Luis) darüber reden. Klar sind Jungs oft körperlicher als Mädchen. Und trotzdem möchte ich, dass er lernt, sich anders mitzuteilen und dass er das, was er da beobachtet, nicht als einzige Wahrheit sieht, wie man sich verhält.

Der Umgang mit eigenen Fehlern

Reagiere ich mal sehr emotional, weil mich etwas wütend, sauer oder traurig macht oder weil ich die Kraft in meiner Hand nicht gut steuern kann und es passiert, dass ich aus Versehen im Groll zu stark an einen Oberarm zufasse, dann entschuldige ich mich natürlich von Herzen und erkläre, was da in mich gefahren ist und warum ich so reagiert habe. Denn ja, auch ich bin nur ein Mensch und auch mir passieren Fehler. Das dürfen sie gern sehen. Sie dürfen sehen, wie ich dann damit umgehe und für sich lernen.

Der Umgang mit Entschuldigung

Auf der anderen Seite ist es mir auch immer schon wichtig gewesen, dass sie sich bei dem anderen entschuldigen, wenn sie ihm weh getan haben oder ihn trösten, wenn er sich weh getan hat. So haben sie ganz lange dieses „Ritual“ verinnerlicht: pusten, streicheln, Küsschen geben. Warum auch immer. Wahrscheinlich habe ich es irgendwann mal in einer aufnahmefähigen Phase so gemacht und sie haben es sich gemerkt. Daran sieht man, wie Kinder so „ticken“. Auch schon die ganz ganz kleinen. Man zeigt ihnen was und wenn sie gerade das Fenster dafür geöffnet haben, nehmen sie es in sich auf. Ganz ohne Zwang, Druck und Dressur. Ist das nicht schön und wertvoll?

Der Umgang mit Bitte und Danke

Um die 12 Monate rum gibt es mal eine Phase, da spielen die meisten Kinder geben und nehmen. Genau da habe ich damals bei Hanna und Luis und auch vor kurzem bei Henri angesetzt und habe das Geben und Nehmen mit diesen Worten verknüpft. Und auch im Alltag kann ich nur das beste Vorbild sein. Alles andere ist Dressur und wenn ich etwas gar nicht will, dann ist es das. Nein, hier muss niemand auf Teufelkommraus Bitte und Danke sagen. Denn meiner Meinung nach soll es wenn, dann von Herzen kommen und gut. Mehr Wertung messe ich diesen zwei Worten nicht bei. 

Wenn man nämlich dem Kind beibringt, dass es die Dinge nur dann bekommt, wenn es das Zauberwort sagt, stelle ich einen ganz unguten Bezug zum Bitte her. Denn dann fängt das Kind an zu glauben, dass es nur „Bitte“ sagen muss und schon bekommt es alles. Das ist nun aber eben nicht immer realisierbar. Das Bekommen/Nichtbekommen hat ja nichts mit dem Wert per se zu tun, oder? 

Was mir in dem Zusammenhang jedoch schon wichtig ist, dass sie wissen, dass wenn sie freundlich fragen es schon einen Unterschied macht, wie wenn sie brüllend auffordernd nach Schokolade verlangen.

Der Umgang meines Mannes mit den Kindern

Viele fragten auch, wie mein Mann das so macht und ob er sich verändert hat, was das „ungezogen/bedürfnisorientierte“ anbelangt. Ja. Hat er. Er reflektiert nun mehr für sich und wir diskutieren sehr viel mehr über Uneinigkeiten. In unguten Momenten reicht es schon, wenn ich ihn „abhole“ und ihm meinen Lieblingssatz ins Ohr flüstere: „Sei kein Arsch zu deinem Kind.“ Oftmals braucht er dann seine Ruhe und danach gehts wieder.

Uneinigkeiten besprechen wir, messen dem aber auch keinen hohen Wert bei. Meistens sehen wir es aber schon sehr ähnlich. Mein Joker ist immer mein Pädagogikstudium und meine intensive Auseinandersetzung mit dem ganzen Kram 😉 da hat er meist kein Gegenargument mehr. Er probiert viel aus, handelt aber oftmals aus dem Bauch heraus. Und das macht er gut. 

In den wesentlichen Grundgedanken unserer Elternauftrages stimmen wir überein und das gibt uns hier sehr viel Ausgeglichenheit im Familienalltag.

Jeder darf hier anders sein und es anders machen. So wie ich die drei nicht dressieren will, dressiere ich auch meinen Mann nicht. Es wird immer im Leben so sein, dass Kinder auf verschiedene Charaktere und Lebensweisen treffen und wenn sie jetzt lernen, dass es überall anders ist, haben sie es für später schon in sich und werden nicht mehr so arg aus ihrer Bahn geworfen

So, das wars nun erst mal von meiner Seite des Weges und der Blumen am Rand. Ich habe gerade meine Landschaft beschrieben, die ich gerade sehe und falls ich etwas vergessen habe, dürft ihr mich gern fragen. Vielleicht sammle ich wieder ein bisschen und schreibe dann darüber meinen nächsten Text. Jetzt ist es aber mittlerweile schon dunkel geworden und ich kann nur die Grillen zirpen hören. Da das für euch aber nicht so spannend ist, schreibe ich eben wann anders weiter. Wenn ich meinen Weg weiter gelaufen bin und vielleicht sogar neues am Wegesrand und drumherum entdeckt habe.

Gute Nacht. (22:15 Uhr)